WE`RE LIKE CRYSTAL

Einzelausstellung, Galerie Raum mit Licht, Wien,
09.11.2017 – 15.12.2017

„We’re like crystal, we break easy“ 

mit dieser melancholischen Metapher beginnt der 2001 erschienene Song der Rockband „New Order“. Entgegen dem programmatischen Label erzählt der Text von der Haltlosigkeit, von Beziehungen und einer übergroßen Sehnsucht nach Liebe. Der nicht enden wollende Ruf „keep it coming, keep it coming“ hinterlässt das Bild einer emotional ungestillten Welt, der die Nähe abhanden gekommen ist. Es scheint, als würde Karin Fisslthaler in ihrem künstlerischen Werk nach einem visuellen Echo zu dieser Metapher suchen. Zu tiefst cineastisch geprägt, schwingt für sie in dem Bild des Kristalls vor allem eines mit: Es ist die Deleuze’sche Definition des filmischen Kristallbildes mit seinen tausendfachen Brechungen. Als solches bezeichnet der Philosoph Situationen auf der Leinwand, in denen aktuell Erlebtes, Vergangenes und Imaginiertes nebeneinander tritt, sich überlagert oder auch bis zur Auflösung durchdringt. Von besonderer Bedeutung sind dabei Dinge, die anderen Zeiten und Räumen entnommen zu sein scheinen. An ihnen entfalten sich Erinnerungen und Assoziationen. Sie brechen das Erleben des Gegenwärtigen auf. Zugleich schließen sie jedoch den einzelnen in seinen persönlichen Erfahrungshorizont ein. Die Gefährdung von subjektiver Stabilität oder anders gesagt: die Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz ist auch hier ein Thema.

Die Arbeit Kollektion ist ein gutes Beispiel, um zu zeigen, wie die Künstlerin die Deleuze’sche Filmtheorie umsetzt. Der Titel ist der Modebranche entnommen und meint eine aufeinander abgestimmte Zusammenstellung von Musterstücken. Die „Ware“ mit der Fisslthaler handelt, ist jedoch von höchst ungewöhnlicher Art. In der Tiefe eines kleinen Schaukastens breiten sich Hände und Armglieder von verschiedener Länge aus. Mit größter Präzision und feinsten Instrumenten hat sie die Künstlerin aus Druckwerken herausgetrennt, die sie im Altpapier, im Antiquariat oder auf Flohmärkten findet. Dem Umlauf des täglichen Lebens entzogen, haben sie noch nicht Eingang in ein geordnetes Archiv gefunden. In ihrer papiernen Leiblichkeit, farbig und schwarz- weiß, tragen diese „cut outs“ den Fingerabdruck eines eben verlebten Lebens. Dazu kommt, dass sie nicht plan auf dem neutralen Untergrund fixiert werden. Freibeweglich und haptisch erfahrbar beanspruchen sie vielmehr das Recht auf eine eigenwertige Existenz. Schließlich sind sie Unikate. Und mehr noch: Gesten und Gebärden formen sehr konkret die unsichtbaren Objekte ihrer Begierden ab. Die Stimulation könnte nicht größer sein! Fremden Körpern entrissen, entäußern sie sich wie Surrogate verschiedener Lebenssituationen. Das geheimnisvolle Reich noch nicht verarbeiteter kollektiver Erinnerungen tut sich auf. Wir scheinen jedem einzelnen Arm einmal begegnet zu sein. Fisslthaler fischt im Fundus unserer Imaginationen.

Stärker noch ist die Suggestionskraft der beiden kleinformatigen Werkkomplexe Exhausted Hands und Silent Treatment. Hier hat die Künstlerin die Ausschnitte größer gesetzt und liefert dem Auge weitere Indizien für die Sphären, in denen die Hände handeln. Dabei arbeitet sie in Serien, arrangiert ähnlich wie Hans Eijkelboom eine visuelle Enzyklopädie typischer Erscheinungen des Alltages. Doch während der niederländische Künstler seine Porträts als „Bestandsaufnahmen der Straße“ (Sabine Vogel) im gewohnten Format bildlicher Archivierungen in Reihen nebeneinandersetzt und dabei den urbanen Individualismus als Utopie zu erkennen gibt, inszeniert Fisslthaler wie eine Regisseurin behutsam jeden einzelnen ihrer im übrigen „kopflosen“ Ausschnitte oder besser noch: Sie führt sie auf! Sie bringt sie auf die Bühne miniaturhafter Kabinettstücke!

Das Loslassen nackter Hände etwa, findet in der geschützten Intimität unterschiedlich großer Streichholzschachteln statt. Manches sogar bleibt dem Blick verborgen, denn sie sind nur zur Hälfte aufgezogen. Die in den Hosentaschen steckenden Hände machtbewusster Männer treten dagegen im Sichtfenster hoch gestellter Briefumschläge auf. Wir kennen diese „Requisite“ im Standardformat aus der geregelten Bürowelt. Dazu suggeriert die Reihung Uniformität und das Diktat gesellschaftlicher Konventionen.

Anders geht die Künstlerin in der Serie Social Network vor. Auch hier schöpft sie aus dem Repertoire an ausgeschnittenen Händen, doch fügt sie diese zu einer großen Collage zusammen. Nahezu ornamental setzt sich der Reigen über sechs gleichgroße Flächen mit den Maßen von 65 x 50 cm fort. Es entsteht der Eindruck einer seltsam körperlosen, fremdbewegten Menschenkette. Das Treffen zweier Hände, der berüh- mte Handschlag, glückt nur selten. Vielmehr überwiegt ein blindes, manchmal auch ins Leere laufende Fassen oder ein Aneinander-Hängen ohne ersichtliches Ziel. Bis- weilen schlägt die Kette Volten und kreist in kleinen Gruppen. Andere Hände bleiben ausgeschlossen und finden sich in der Selbstberührung zurecht.

Der Abdruck einer Hand zählt zu den frühesten Ausdrucksformen des Menschen überhaupt. Er ist die älteste Signatur des Homo sapiens, indexikalisch und selbstref- erentiell zugleich. Diese kulturelle Praxis allein beweist, dass die bewusst eingesetz- ten Potentiale einer Hand zu den Pfeilern von Zivilisation zählen. Über die Funktion eines bloßen Werkzeuges hinaus war und ist die Hand bis heute ein wichtiges Instru-ment zur Erkenntnisgewinnung: In ihrer feinfühligen Innenfläche ereignen sich Sen- sationen des subjektiven Empfindens genauso wie Vorgänge des objektivierenden Begreifens. Innen- und Außenwahrnehmung schmiegen sich aneinander. Auch Zählen ist schließlich ein Vermögen der Finger. Ganz wesentlich dienen Hände jedoch immer schon als nonverbales und universales Ausdrucksmedium. Unbewusste, wie kulturell codierte Inhalte werden über sie artikuliert. Durch die digitale Revolution hat sich die Funktion dieses Sinnesorganes allerdings verändert: Auge und Hand gehören heute getrennten Erfahrungswelten an. Die Fingerkuppen, die auf den glatten Oberflächen einer Computertastatur liegen, begreifen nicht das, was der Bildschirm dem Auge bietet. Auch in der Kommunikation verlieren sie an Wert. Händelose Emojis fluten seit den 90er Jahren den Bildschirm. Man könnte es als Emanzipation des Gesichtes von der Hand bezeichnen, doch mehr noch: Das Gesicht wird allerorts zu dem bevorzugten Ort nonverbaler Kommunikation. Es ist wiederum der Film, der uns seit langem darauf vorbereitet hat. Heute lesen wir in Gesichtern und nicht mehr aus Händen. Gesehene Nähe ist keine wirkliche Nähe. Wirkliche Nähe entzieht sich vielmehr dem Sehsinn. Das Social Network, das – von einsamen Händen bedient – viele Bildschirme verbindet, könnte bald den gesamten Globus umspannen, doch es wird ihm keine reale Erfahrung entsprechen. Fisslthaler hinterfragt damit nicht nur die Erfahrungsmöglichkeiten von Globalität, sondern von Ganzheit überhaupt. Die Einsicht in die Unvollkommenheit menschlicher Erkenntnisfähigkeit, der sich die Welt in ihrer wachsenden Komplexität nur in Bruchstücken aus unverbundenen Wahrnehmungsfacetten erschließt und insbesondere die Einsicht, dass selbst die Ganzheit eines Individuums keine real erfahrbare Größe ist, durchzieht das gesamte Schaffen der Künstlerin. Fisslthalers Welt bleibt ein brüchiges Kristallbild. (Heidrun Rosenberg, Oktober 2017)